blikk Schule gestalten   11. Pädagogische Tagung          
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Erkennen, Verstehen, Lernen (1)
erstes Referat von Peter Singer
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1.1. Thesen über die Bildung

... die Idee
des Nürnberger Trichters ...
davon müssen wir
Abschied nehmen!

 
  1. Der Bildungskanon der Schulen war immer ein Kind der Zeit und musste sich in den Lebensvollzügen der wechselnden Zeiten bewähren.
  2. Die Vorstellungen darüber, wie Menschen lernen, was dabei abläuft, sind auch heute noch viel zu sehr von wenig reflektierten Alltagstheorien geprägt.
  3. Menschliches Lernen wird immer mit Anstrengung verbunden sein. Es gibt keinen Königsweg zur Erkenntnis und zum Wissen.
  4. "Richtiges", "gutes", "wertvolles", "wahrhaftiges" Erkennen, Lernen und Wissen - oder wie man das auch formulieren mag - muss immer einen humanitären und aufklärerischen Bezug haben.
  5. Nur Lernen, Bildung im Sinne von These 4 kann einen Beitrag zur sinnvollen, d.h. nicht zerstörenden Bewältigung menschlicher Konflikte jeder Art leisten.

Die Thesen des Konstruktivismus sind nicht neu, wenn sie auch die Schulen bei weitem noch nicht erreicht haben. Bereits im 18. Jahrhundert vertrat Gianbattista Vico in seinem Werk "De antiquissima Italorum sapientia" (1710) konstruktivistische Ideen, die allerdings nicht weiter aufgegriffen wurden: "Gott ist der Urheber der Natur, der Mensch ist der Gott der Artefakte." "Wissen ist gleichbedeutend mit machen können." "Erkennende Akteure können nicht wissen, was jenseits der kognitiven Strukturen liegt, die sie selbst aufgebaut haben." Ein anderer italienischer Autor, diesmal allerdings aus dem 20. Jahrhundert, vertritt ebenfalls den konstruktivistischen Standpunkt. Umberto Eco schreibt in "Il nome della rosa": "Jorge fürchtete jenes zweite Buch des Aristoteles, weil es vielleicht lehrte, das Antlitz jeder Wahrheit zu entstellen, damit wir nicht zu Sklaven unserer Einbildungen werden. Vielleicht gibt es am Ende nur eines zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien." "Wo ist da meine ( die jenige von William von Baskerville) ganze Klugheit? Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, dass es in dieser Welt keine Ordnung gibt." "Die Ordnung, die unser Geist sich vorstellt, ist wie ein Netz oder eine Leiter, die er sich zusammenbastelt, um irgendwo hinaufzugelangen. Aber wenn er dann hinaufgelangt ist, muss er sie wegwerfen, denn es zeigt sich, dass sie zwar nützlich, aber unsinnig war."

 

     

... nur ein Prozent unseres Lernprozesses wird von außen angeregt ...

  Begründer und Hauptvertreter des Konstruktivismus sind Heinz von Förster, Humberto Maturana, Franzisco Varela, Ernst von Glasersfeld, die alle von den Naturwissenschaften herkommen. Auch Paul Watzlawick vertritt den Standpunkt des Konstruktivismus. In der Schule ist die Sachlage allerdings eine andere: Die Idee des Nürnberger Trichters, die auf Georg Philipp Harsdörfer ("Poetischer Trichter, die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der lateinischen Sprache in sechs Stunden einzugießen") zurückgeht, ist noch weit verbreitet. Das ist das Bild von Schule, von Lernen, wie wir es immer noch haben. Davon müssen wir Abschied nehmen, nicht bloß deshalb, weil die Lernpsychologie es nahe legt, sondern vor allem, weil die Neurobiologie "harte" Daten liefert. So wissen wir z. B., dass 99 % aller Vorgänge im Gehirn aufgrund neurobiologischer Stimulation anlaufen, 1 % wird von außen angeregt.
     
 

© Pädagogisches Institut der deutschen Sprachgruppe - Bozen - 2000