„Kinder und Jugendliche/ haben das Recht,/ Grenzen auszutesten,/ Erwachsene die Pflicht,/ ihnen Grenzen zu setzen.“ – Diese Kernaussage setzt der Autor, ehemaliger Lehrer und Schulmediator und jetziger Moderator in der Gewaltprävention, in prägnanter Knappheit seinem Buch voran. Eine Binsenweisheit – möchte man meinen, aber weit gefehlt. In drei Teilen mit insgesamt 25 Kapiteln erläutert und belegt Becker die Gefahren und Auswüchse missverstandener Großzügigkeit, missbrauchten Vertrauens und des fehlenden konsequenten Einforderns verbindlicher Werthaltungen in unserer Gesellschaft. Wenn sich störendes, grenzwertiges Verhalten festigt und zur Gewohnheit wird, auch weil sich niemand darum kümmert dagegen zu steuern, breiten sich einerseits Hilflosigkeit und Passivität aus, andererseits etablieren sich Respektlosigkeit, Provokationen, verbale und körperliche Aggressivität als tolerierte und folglich zulässige Verhaltensweisen in einer Demokratie. Wenn nämlich regelverletzendes Verhalten keine spürbare Konsequenz erfährt, lautet die Botschaft: Regeln sind wertlos! Dabei wird das Recht des Einzelnen und der schweigenden Mehrheit zu Schanden gemacht. Zu Recht vergleicht Becker die libertäre Haltung von Erziehern, Bildungsverantwortlichen und Ordnungshütern, deren Nachsichtigkeit und Verständnisbereitschaft mit Don Quichottes idealistischen Traumvorstellungen. In Wirklichkeit wiederholen sich Schulschwänzertum bis Kleinkriminalität fast als unendliche Geschichte, zumal auch Behörden „Toleranz“ zeigen und mediale Verführungen zur „Desensibilisierung“ beitragen.
Im dritten Teil zeigt Becker „Was gehen könnte, aber selten läuft“ (187) Er plädiert für eine verantwortungsvolle Pädagogik, die sich damit auseinandersetzt, „verbindliche und verpflichtende Formen der Intervention zu entwickeln, die gleichzeitig mit dem Freiheitsanspruch dieser Gesellschaft kompatibel sind.“ (197) Als unverzichtbar nennt der Autor „gesicherte Grundbedürfnisse (Kap. 19); als ebenso wirksam werden „Regeln und Rituale als Orientierungshilfen“ (Kap.20) und „Konsequenzen – ungeliebt und doch notwendig“ (Kap.21) beschrieben. Wir sollten unbequeme Wahrheiten eingestehen und nicht vergessen, dass die Fähigkeit zu selbständiger, freiwilliger Entscheidung nur das Ergebnis, keinesfalls die Voraussetzung eines pädagogischen Prozesses sein kann. (247)
Empfehlung:
Wir müssen uns auf „unbequeme Aussichten“ einstellen, und darin liegt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, „die sich gleichermaßen an Behörden, staatliche Institutionen, zivilgesellschaftliche Einrichtungen, Lehrer, Eltern, Erzieher und an jeden demokratisch orientierten Bürger richtet.“
„Die Beliebigkeit sozialer Regeln und Leitbilder, das anstrengungslose Erfolgsversprechen bei gleichzeitig frustrierender sozialer Perspektivlosigkeit und die gesellschaftliche Weigerung, eine verbindlicher Orientierung von Normen und Werten vorzugeben, gehen eine verhängnisvolle Koalition ein. Die soziale Verwahrlosung im öffentlichen Raum nimmt zu, während positive Verhaltensbeispiele für junge Menschen an Attraktivität verlieren.“ (137)