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Grazia (1-1/1)

 
 

Vogelfrei Kapitel 1: Grazia

 

Laura Küper

Dienstag, 13. November 2012

Thema:

Allgemeines
 

Vogelfrei

 

 

Ja! ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr‘ ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich.

Friedrich Nietzsche
Ecce Homo

 

 

Grazia

 

Ich hörte die Psychologin seufzen, als ich ihr Büro dieses Mal verließ. Büro, Behandlungszimmer, Folterkammer, was auch immer es war. Für mich war es nur der Raum, in dem ich dreimal die Woche eine Stunde abzusitzen hatte. Nutzlos. Zeitverschwendung.
Wie fühlst du dich?
Keine Reaktion.
Wie kommst du mit deiner Mitbewohnerin zurecht?
Keine Reaktion. Isst du vernünftig?
Vielleicht ein Blick auf meine abgemagerte Figur, die ich unter den zu großen Kleidern versteckte, ansonsten – keine Reaktion.
Gibst du dir noch immer die Schuld an dem Feuer?
An dieser Stelle schaltete ich jedes Mal aufs Neue ab. Ich starrte die vielen Buchrücken an, Psychoschinken, nannte Grazia sie immer. Freud, Adler, Jung, Erikson, Jones.

„Wie war’s?“, fragte Grazia, als ich aus der Sitzung zurückkam.
Ich schüttelte nur den Kopf, obwohl Grazia die einzige Person war, mit der ich seit dem Brand gesprochen hatte. Seit über einem Monat. In die Schule haben sie mich gar nicht erst reingelassen, nachdem meine Psyche als kritisch eingestuft worden war. Sie hatten mich nur zu der dämlichen Psychologin geschickt, die hier im Heim jederzeit verfügbar ist. Das Problem war nur, so wurde mir in meiner Sitzung gerade erläutert, dass dieses Heim kein Heim für psychisch labile Teenager war, sondern für Jugendliche, die vorübergehend nicht zu Hause wohnen. Wenn ich also nicht bald anfing zu reden, dann würde sie mich verlegen lassen.
„In die Klapse?“, fragte Grazia, nachdem ich es ihr erzählt hatte. „Fuck, Mira, du musst dich jetzt mal endlich zusammenreißen.“
„Ich weiß“, sagte ich leise. „Was ist mit dir?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber lange bleib ich nicht mehr. Was machst du dann?“
Es juckte mich zu fragen, wo sie hinwollte, warum sie hier war, was mit ihr passiert war. Und vor allem, ob sie freiwillig hier war – als eine Art Urlaub. So wirkte es nämlich die ganze Zeit. Sie tat immer so, als würde sie hier ausruhen und könnte gehen, wann immer sie wollte. Sie tat, als würde draußen irgendwas auf sie warten. Aber ich schluckte alle Fragen hinunter. Wenn sie wollte, würde sie es mir erzählen.
„Die wollen mich in so ‘ne komische betreute WG schicken“, fuhr Grazia fort und strich sich über die kurzen giftig-blauen Haare. „Ich hab der Psychotussi gesagt, dass sie das vergessen kann, aber die meinte, das ist nicht meine Entscheidung. Ich bin nicht kooperativ genug.“ Sie lachte rau. Obwohl sie seit vier Monaten nicht mehr rauchte, hörte sich ihre Stimme manchmal wie die einer Kettenraucherin an. „Hör mal zu, du musst jetzt sofort anfangen dich normal zu benehmen. Ich dachte, du willst hierbleiben und nicht irgendwohin geschickt werden, fremde Stadt, fremde Leute.“
„Ist mir egal.“
Sie schwieg eine Weile. „Mir aber nicht.“
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Fuck, Mira – du bist doch nicht dämlich. Hier drin versauerst du nur. Du musst hier raus und deine Flügel ausbreiten, verstehst du?“
„Nein.“
Sie lachte wieder und schüttelte den Kopf. „Wirst du schon noch. Bist noch nicht lange genug hier.“


Über der Stadt hing eine Kuppel aus Hitze und dem Geruch eines nahenden Gewitters. Im flirrenden Blau des Himmels türmten sich Wolken zu immer höheren und bizarreren Gebilden auf und verhüllten die Sonne. Es war absolut windstill und ich wünschte mich aus dem verkümmerten Garten hinter dem Heim weg, weit weg, vielleicht ans Meer. Wenn ich die Augen schloss, hörte sich der Verkehrslärm der Hauptstraße ein bisschen wie Meeresrauschen an. Beinahe konnte ich über den schweren Duft des wilden Rosenstrauchs neben mir eine kühle Meeresbrise erahnen…
„He!“
Ich richtete mich auf – ich hatte auf einem alten Gartentisch gelegen – und erblickte Grazia. Mein Traum vom Meer zerplatzte binnen Sekunden, als ich sie mit ihrer klobigen schwarzen Reisetasche auf mich zukommen sah.
Ich wusste es, bevor ich fragte. „Wohin gehst du?“
„Weg“, entgegnete sie und ging an mir vorbei zum anderen Ende des Gartens, den ein mannshoher Holzzaun von der Außenwelt trennte. „Ich verschwinde.“
„Warte!“, rief ich und hasste mich dafür, dass ich flehend klang. Sie blieb stehen und bedachte mich mit einem Blick tiefster Verachtung.
„Was?“, fragte sie angriffslustig. „Sei nicht blöd, klar? Du kommst hier alleine raus, du weißt genau, was du tun musst. Ich melde mich, wenn du’s gepackt hast.“

„Wie willst du dich bei mir melden?“, fragte ich wütend. „Ich habe nichts, wenn ich hier rauskomme, das weißt du verdammt noch mal genau!“
Sie warf ihre Tasche über den Zaun und schaute mich unbewegt an. „Für wen hältst du mich, Kleine? Eine Lügnerin? Eine wortbrüchige Verräterin?“
„Sag du es mir, Grazia.“
Sie klopfte dreimal gegen den Zaun. „Ich finde dich“, sagte sie, und es klang wie eine Drohung und ein Versprechen zugleich.
Dann flog mir nichts dir nichts ein dickes Tau über den Zaun, an dem meine einzige Freundin in diesem Albtraum sich ungewohnt sicher und anmutig hinaufhangelte und aus meinem Leben verschwand. Sie verschwand aus meiner winzig kleinen Welt ohne auch nur einmal zurückzublicken. Doch sie hatte Spuren hinterlassen. Und jedenfalls eine der Fragen beantwortet, die ich ihr nie gestellt hatte.
„Wer bist du, Grazia?“, flüsterte ich und starrte die Wand neben meinem Bett an.
Sie hatte ein vertrautes Vogelsymbol mit einfachen Strichen an die schmutzige Tapete neben meinem Kopfkissen gezeichnet. 

 
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