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Neurobiologische Grundlangen des Lernens (3)
zweites Referat von Peter Singer
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Für unsere Arbeit sind folgende Erkenntnisse von Bedeutung
 
1. Wenn wir denken und handeln, orientieren wir uns nicht an Regeln.

  Regelhaftes Sprachverhalten und andere komplexe Denk- und Produktionsprozesse sind möglich ohne explizite interne Repräsentation von Regeln, nach denen sie ablaufen. Der große Irrtum des konservativen Grammatikunterrichts (Chomsky: generative Transformationsgrammatik; Oberflächen-, Tiefenstrukturen) bestand darin anzunehmen, Sprache lasse sich erlernen, wenn man nur genügend gut mit den Regeln dieser Sprache vertraut sei. Sprache lernt man durch Sprechen, Zuhören und Lesen, nicht durch Regeln. Dasselbe gilt für die Mathematik. Entscheidend bleibt immer das Tun, weshalb es unerlässlich ist, in der Schule genügend Möglichkeiten für eben dieses Tun zu bieten. Ein Merkmal guten Unterrichts ist es, dass die Schulstunde für Tun und Denken genutzt wird. Aus dieser Sicht heraus rechtfertigt sich auch das Disziplinieren. Denn ohne Disziplin finden keine Denkprozesse statt. Eine Heuristik des Problemlösens kann nur aus der eigenen Aktivität, dem eigenen Erleben heraus entwickelt werden. Das bedeutet, dass regelhaftes Verhalten sich durch vielfältiges und wiederholtes Tun bildet - nicht das Tun wird durch von außen implantierte Regeln gelernt!
 
2. Alle geistigen Prozesse sind in hohem Maße beweglich und kaum kontrollierbar.     Alle geistigen Prozesse sind nicht statisch und regelhaft. Ihre hervorstechenden Merkmale sind Dynamik, Prozesshaftigkeit und hohe Störanfälligkeit. Da sie also hochkomplex sind, nützt es nichts zu sagen: Reiß dich zusammen, dann wird es schon gehen. Wir müssen zu akzeptieren lernen, dass nicht alles bzw. fast nichts auf Befehl abläuft, es braucht eben unterschiedlich viel Zeit. Abbildungen wie die Vase, in der man auch ein zwei Gesichter sehen kann, oder auch 3-D-Bilder zeigen, was mit Dynamik und Prozesshaftigkeit gemeint ist. Nicht nur was unsere Sinneszellen reizt, auch unser Vorwissen spielt bei der Verarbeitung eine Rolle. Störungen müssen nicht so gravierend sein; Signale, die vom Gehirn / den Neuronen ausgehen, können einlaufende Signale befördern oder bremsen, und zwar bis zum "Nullpunkt". Adrenaline blockieren die Transmitterflüssigkeit zwischen den Synapsen: Es kommt zu einer Blockade. Daraus folgt: Kästchen und Schubladendenken können wir vergessen. Denkvorgänge lassen sich nicht kontrollieren. Wichtig ist es, die Produktion von Stresshormonen zu vermeiden und sich der Tatsache bewusst sein, dass die Ausgangslage der Individuen für die Informationsaufnahme eine ganz große Rolle spielt und dass Vorausinformationen eine entscheidende Bedeutung haben.
 

3. Der Aufbau unseres Gehirns ist nicht genetisch festgelegt.

  Die Verbindungen zwischen allen unseren Neuronen (ca. 20 Milliarden Nervenzellen, von denen jede mit bis zu 10.000 anderen verbunden ist), kann unmöglich genetisch festgelegt sein. Die in unserer gesamten Erbmasse gespeicherten Informationen würden dazu nie ausreichen. Die Aussage bezieht sich auf den Kortex, der weitgehend für Denkprozesse verantwortlich ist. Die Frage nach der absoluten, genetischen Disposition geistiger Fähigkeiten ist damit beantwortet. Sicher wird nicht die "Verdrahtung" vererbt, wohl eher Dinge wie Störungen gravierender Art (Epilepsie, Down-Syndrom, Stoffwechselstörungen) und im Wechselspiel mit der Umwelt Dinge wie Vorlieben, Arbeitsformen. Das bedeutet: Lernende dürfen nicht aufgrund ihrer Herkunft festgenagelt werden.
 

4. Wir lernen, indem wir die Verbindungen unter den Neuronen aufbauen und verändern. Wir lernen nicht Einzelheiten, sondern Strukturen. Wir lernen am Anfang rasch, später zunehmend langsamer. "Spiel ist die unmittelbare Konsequenz von Lernfähigkeit".

  Gelernt wird, indem Input - Output - Beziehungen immer wieder durchgespielt werden. So verändern sich die Verbindungen der Neuronen untereinander nach und nach, bis das richtige Verhalten mit immer größerer Wahrscheinlichkeit realisiert wird. Dabei werden nicht Einzelheiten gelernt, sondern allgemeine Strukturen des Inputs. Diese Prozesse laufen am Anfang relativ rasch, später zunehmend langsamer ab. Das hat seinen Grund: So werden einmal aufgebaute Strukturen, an denen sich weiters Denken orientiert, nicht so rasch wieder verändert, dass eine Art Orientierungslosigkeit eintritt. Wenn wir also mit zunehmendem Alter langsamer lernen, so bedeutet dies einen Schutz für uns, schließlich werden durch das Lernen bestehende Strukturen verändert oder gar abgebaut, auf jeden Fall in Frage gestellt. Und das kann unter Umständen lebensbedrohlich sein. Im Spiel können Kinder in einem sanktionsfreien Raum Erfahrungen verarbeiten. Der Spracherwerb z. B erfolgt über die Erprobung von Äußerungen im Alltag. Das Sprichwort "was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" meint vermutlich nur diesen eng begrenzten und sinnvollen Ausschnitt. Lernen ist also viel mehr eine Art "Probehandeln" und "Versuchsdenken", das laufend auf seine Viabilität hin überprüft wird: Kommst du so zum Ziel? Hilft dir das? Wichtig ist die Auseinandersetzung mit einer Sache. Die richtigen Ergebnisse sind sekundär.
 
 
5. Das Gehirn speichert rationell.
 
  Informationen aller Art werden in unserem Gedächtnis in einer Art Vektorräumen repräsentiert. Jede Farbe mit den Stufen 0 - 255 ergibt insgesamt 2 hoch 24 Farben. Es sind aber nur drei kleine Areale im Gehirn dafür vorhanden, die je nach Erregung ihren Beitrag beisteuern und nicht 2 hoch 24 Zellen. So ist auch die Verbreitung von Informationen im Gehirn auf Sparsamkeit hin angelegt. Dies bedeutet: Vernetztes Denken, d.h. gegenseitige Beziehungen, Abhängigkeiten auch bei der Aufnahme von Informationen müssen berücksichtigt werden; es dürfen keine isolierten Speicherleistungen verlangt werden, wo dies nicht notwendig ist. Synergieeffekte müssen genutzt werden.

6. Unser Gehirn ist in hohem Maße plastisch.

  Die Größe der kortikalen Verarbeitungsareale wird durch den Input bestimmt. Man muss sich das als sich "selbstorganisierende Eigenschaftskarten" vorstellen. Das heißt auch: Unser Gehirn ist plastisch, d.h. es passt sich veränderten Gegebenheiten an, indem neue Verknüpfungen von Neuronen und Neuronenverbänden ("Karten") gebildet werden. Dies wurde zweifelsfrei nachgewiesen durch Untersuchungen an Patienten mit künstlichen Innenohren, an erblindeten Menschen, die eine Blindenschrift lernen mussten, und an Menschen mit amputierten Gliedern. Es gibt stichhaltige Hinweise dafür, dass dieser Umstand nicht nur für sensorische, sondern auch für "höhere" Kortexareale gilt. Diese Plastizität lässt sich unter anderem auch durch die Vermeidung von Eintönigkeit erhalten und fördern. Entsprechende Eindrücke, Erfahrungen vergrößern auch die für Aktivitäten in diesem Bereich zur Verfügung stehenden Hirnareale. Daher: Gut angelegte, wirksame Lernprozesse und Lernumgebungen, die solche auslösen, haben eine "potenzierende" Wirkung: Sie verändern Gehirnareale (wenn man einmal etwas kann, dann geht plötzlich alles viel leichter). Das ist die Erklärung für Lernplateaus. Es muss uns also darum gehen, Eintönigkeit im Unterricht zu vermeiden. Dabei "bestimmen" die Lernenden, d.h. man liest an ihnen ab, wann Eintönigkeit auftritt. Das heißt nicht, dass nicht auch geübt werden darf, aber nicht als Schikane oder Beschäftigungstherapie. Auch wenn jemand nicht begreift, Mühe hat, Zeit - viel Zeit - braucht, ist er noch kein hoffnungsloser Fall.

 

7. Unser Gehirn beschäftigt sich vorwiegend mit sich selbst.

  Das Gehirn beschäftigt sich vorwiegend mit sich selbst. Über 99 % aller Neuronen der Großhirnrinde erhalten ihren Input von anderen Neuronen der Großhirnrinde und stimulieren wieder solche. Das heißt konkret: Unser Großhirn ist in erster Linie mit seiner Selbstorganisation beschäftigt. Wer die Begriffe "Assimilation", "Akkomodation" und "Äqulibration" aus dem Kognitivismus (Piaget) kennt, erkennt, welchen Raum die letzten beiden einnehmen. Dies alles stützt die konstruktivistische Sicht des Lernprozesses: Lehrer und Lernende sind Systeme, die praktisch unabhängig voneinander funktionieren. Im normalen "Lehrbetrieb" prasselt viel zu viel auf die Lernenden nieder, Lernende müssen sich deshalb permanent gegen die Überflutung wehren, wenn sie etwas Vernünftiges mit neuen Inhalten anfangen wollen. Oder sie werden mit wenig anregenden Inhalten eingedeckt, die in ihnen nichts auslösen. Deshalb ist es von größter Wichtigkeit auf die Qualität der Lernaufgaben und Arrangements zu achten. Wichtig ist, dass wir spüren, wann die Selbstorganisation einsetzt (Fragen, Einwände, Probleme, Kritik…) und dann diesem Prozess den notwendigen Rahmen geben.

 

8. Wir lernen nicht nur in einer Richtung (z.B. vom Konkreten zum Abstrakten).
  Die Verarbeitung von Informationen läuft immer bottom - up und top - down. Es wird also nicht von konkret zu abstrakt "gedacht", sondern immer auch umgekehrt. Es lassen sich auch in unserem Großhirn unterschiedliche Areale der Verarbeitung von Informationen hinsichtlich der Abstraktion unterscheiden. Denken und Lernen sind mehr als sprunghafte Prozesse und nicht als stetig "aufwärts" fortschreitende zu betrachten. Piagets Entwicklungsstufen und Bruners Vorstellungsstufen sind vor diesem Hintergrund mindestens neu zu interpretieren.

 

9. Es gibt einen großen Unterschied beim Lernen von Tatsachen und Fähigkeiten.

  Der Hippocampus lernt schneller als der Kortex und ist sein Trainer, wenn es darum geht, Tatsachen zu lernen. Beim Erlernen von Fähigkeiten braucht es vor allem den Kortex, deshalb müssen wir dafür auch mehr Zeit aufwenden. Bei Fähigkeiten müssen wir das Üben selbst besorgen, bei den Tatsachen übernimmt dies der Hippocampus. Dieser arbeitet auch im Schlaf weiter ("Lernen im Schlaf"). Deshalb ist für junge Lernende, die eindeutig mehr Tatsachen lernen müssen, der Schlaf so wichtig. Das gilt aber nicht für komplexe Zusammenhänge. Dies bedeutet: Beim Faktenlernen dürfen wir auf die Unterstützung durch die Natur zählen, wenn die äußeren Umstände stimmen. Es gibt ein komplexes Zusammenspiel zwischen Fakten und höheren Denkprozessen (es braucht beides).
     
 

© Pädagogisches Institut der deutschen Sprachgruppe - Bozen - 2000